A. Bähler: Kühlewil 1892 – 2017

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Titel
Kühlewil 1892 – 2017. Die Geschichte einer sozialen Institution der Stadt Ber


Autor(en)
Bähler, Anna
Reihe
Archiv des Historischen Vereins des Kantons Bern
Erschienen
Baden 2017: hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
Anzahl Seiten
220 S.
von
Michèle Hofmann, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Zürich

Anlässlich des 125-Jahr-Jubiläums des stadtbernischen Alters- und Pflegeheims Kühlewil hat Anna Bähler die wechselvolle Geschichte dieser Institution, die 1892 als Armenanstalt gegründet wurde, nachgezeichnet. Die Festschrift schliesst – jedoch ohne diesen Bezug herzustellen – thematisch an eine grössere Zahl von Arbeiten an, die in den vergangenen Jahren im Kontext der wissenschaftlichen Aufarbeitung der in der Schweiz bis in die frühen 1980er-Jahre praktizierten sogenannten fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen erschienen sind. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass der Bundesrat zur Erforschung «dieses heiklen Kapitels der schweizerischen Sozialgeschichte»1 2014 eine Unabhängige Expertenkommission (UEK) Administrative Versorgung einsetzte und 2017 das Nationale Forschungsprogramm «Fürsorge und Zwang – Geschichte, Gegenwart, Zukunft» (NFP 76) lancierte. Im Umkreis der UEK und im Zuge der Vorbereitung des NFP 76 wurden zahlreiche Forschungsarbeiten publiziert.2

Die Festschrift zu Kühlewil ist sowohl chronologisch als auch thematisch strukturiert und enthält zahlreiche ganzseitige Schwarz-Weiss-Abbildungen. Sie beginnt mit einem Vorwort von Franziska Teuscher, Gemeinderätin für Bildung, Soziales und Sport der Stadt Bern, und dem Dank der Autorin an Personen, welche die Publikation ermöglicht respektive die Arbeit an dieser unterstützt haben. Diesen Dankesworten ist zu entnehmen, dass zahlreiche Gespräche, die Anna Bähler mit pensionierten Mitarbeitern, einem ehemaligen Heimleiter sowie ehemaligen Heimärzten führte, eine wichtige Grundlage für das Buch darstellten. Die folgenden Ausführungen zur Geschichte von Kühlewil sind in drei Teile gegliedert, die ihrerseits in kurze Abschnitte unterteilt sind und ausserdem Textkästen mit eher anekdotischen Bemerkungen zu verschiedenen Geschehnissen in Kühlewil beinhalten. Den Abschluss bildet ein ebenfalls kurz gehaltenes Fazit.

Eine eigentliche Einleitung, in der die Struktur des Buchs, die Schwerpunktsetzung oder die Quellengrundlage erläutert würden, fehlt. Zu Beginn des erstens Teils, in dem die Gründung und die Entwicklung von Kühlewil bis in die heutige Zeit im Zentrum stehen, erfährt man in dieser Hinsicht einzig, dass sich die Festschrift «mit der Geschichte dieser traditionsreichen Institution, vor allem aber mit den Menschen, die dort lebten und arbeiteten» (S. 14), befasse. Ziel der Publikation ist es also in erster Linie, die Vorgänge «im Inneren» von Kühlewil zu beleuchten – eine Perspektive, die sich auch mit dem Konzept der «Lebenswelt» fassen liesse, wie dies etwa in Kevin Heinigers Untersuchung zur Zwangserziehungsanstalt Aarburg der Fall ist.3 Den kurzen einleitenden Bemerkungen ist ausserdem zu entnehmen, dass die «Entwicklungen und Veränderungen in Kühlewil» geprägt waren «von wirtschaftlichen, sozialen und politischen Veränderungen der letzten 125 Jahre, aber auch von einer sich wandelnden Wahrnehmung der Armut und der Menschen, deren Verhalten nicht der gesellschaftlichen Norm entsprach », und dass «die Geschichte des Heims eng verbunden [ist] mit der Geschichte der Armut und der sozialen Fürsorge in der Stadt Bern» (S. 14f.). Diese Ausführungen deuten darauf hin, dass die Betrachtung des «Innenlebens» von Kühlewil eingebettet werden soll in einen grösseren Kontext, der vor allem historische Entwicklungen in der Stadt Bern seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert betrifft. Eine solche Kontextualisierung gelingt der Autorin insbesondere im ersten Teil ihrer Publikation. Hier zeichnet sie anschaulich die verschiedenen Etappen des institutionellen Wandels von Kühlewil nach (Armenanstalt, Fürsorgeanstalt respektive -heim, Alters- und Pflegeheim) und verortet diese Entwicklung in der Geschichte der Armut, der Sozialpolitik und der Altersfürsorge. Deutlich zum Ausdruck kommt dabei der «zweischneidig[e] Charakter» (S. 31) der Institution, der sich treffend mit «Fürsorge und Zwang» zusammenfassen liesse. In Kühlewil wurden «alte, kranke, behinderte, arme und sozial desintegrierte Personen» untergebracht (ebd.). Diesen Personen sollte die Anstalt «ein Zuhause » (ebd.) bieten. Menschen, die freiwillig im Heim lebten, bildeten stets nur «eine kleine Minderheit» (ebd.) der sogenannten Pfleglinge. Die meisten Insassen und Insassinnen waren unfreiwillig in Kühlewil. Ihre «Versorgung» diente insbesondere dem Zweck, die Berner «Bevölkerung von heruntergekommenen und arbeitsscheuen Individuen zu reinigen», wie es 1895 im Verwaltungsbericht des Gemeinderats hiess. Der Ruf als Zwangsanstalt «blieb lange an Kühlewil hängen» (S. 33) und prägte die Institution nachhaltig.

Im zweiten Teil des Buchs richtet Anna Bähler den Blick auf zahlreiche Facetten des Anstaltslebens in Kühlewil. Diese detailreichen Ausführungen stützen sich in erster Linie auf Verwaltungsberichte, Hausordnungen, Sitzungsprotokolle der Aufsichtskommission, das interne Informationsblatt Voilà und wohl auch auf Gespräche mit ehemaligen Mitarbeitenden. Die Autorin erwähnt den Umstand, dass es sich bei ihrer Betrachtung – zwangsläufig – um eine «Geschichte von oben» handelt, eher beiläufig. Sie schreibt an einer Stelle, dass «die Pfleglinge vor allem in den ersten vier Jahrzehnten zahlreiche Beschwerdebriefe» geschrieben hätten, doch «die meisten Originalbriefe nicht mehr aufzufinden» seien. Aus diesem Grund schildere «dieses Kapitel die Problematik des Zusammenlebens vorwiegend aus der Perspektive der Anstaltsleitung, ab 1962 auch aus der Sicht des Personals» (S. 107). Diese kleine Bemerkung zeigt einmal mehr, wie schwierig es gerade im Fall des vorliegenden Themas ist, der oft geäusserten Forderung nach einer «Geschichte von unten» nachzukommen und den von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen Betroffenen eine Stimme zu geben.

Der dritte Teil des Buchs befasst sich mit den Krankheiten, an denen die in Kühlewil untergebrachten Menschen litten, und der Krankenpflege in der Institution. Auch dieser Teil wendet sich primär dem «Innenleben» der Anstalt zu. Gleichwohl stellt die Autorin einige interessante Kontextbezüge her, insbesondere zur Entwicklung der Pflegepersonalausbildung in der Schweiz. Im Fazit würdigt Anna Bähler das «einzigartig[e] Profil» (S. 191), über welches das Alters- und Pflegeheim Kühlewil heute verfüge, und führt dieses Profil nicht zuletzt auf die Geschichte der Institution zurück.

Das vorliegende Buch ist leicht zu lesen, anschaulich und detailreich. Es handelt sich hierbei insofern um eine klassische Festschrift, als die Autorin darauf verzichtet hat, ihre Untersuchung in einen grösseren Forschungszusammenhang zu stellen. Folglich richtet sich die Schrift in erster Linie an ein historisch interessiertes Publikum und weniger an Fachpersonen.

1 Germann, Urs: Die administrative Anstaltsversorgung in der Schweiz im 20. Jahrhundert. Bericht zum aktuellen Stand der Forschung. Bern 2014, 2 (www.infoclio.ch/de/node/134673).
2 Vgl. Germann (wie Anm. 1); www.uek-administrative-versorgungen.ch; www.nfp76.ch. Ausserdem wurden in verschiedenen Kantonen Studien in Auftrag gegeben. Jüngst wurden beispielsweise Ergebnisse eines Forschungsprojekts des Kantons Zürich veröffentlicht. Vgl. Gnädinger, Beat; Rothenbühler, Verena (Hrsg.): Menschen korrigieren. Fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen im Kanton Zürich bis 1981. Zürich 2018.
3 Vgl. Heiniger, Kevin: Krisen, Kritik und Sexualnot. Die «Nacherziehung» männlicher Jugendlicher in der Anstalt Aarburg (1893 – 1981). Zürich 2016.

Zitierweise:
Michèle Hofmann: Rezension zu: Bähler, Anna: Kühlewil 1892 – 2017. Die Geschichte einer sozialen Institution der Stadt Bern. Baden: Hier und Jetzt 2017. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 80 Nr. 1, 2019, S. 52-54.

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Beiträger
Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 80 Nr. 1, 2019, S. 52-54.

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